Lololith erlebt die heilige Stunde
Georg Dreissig
Es ist bei jenem Weihnachtsfest dann doch noch alles gut geworden. Als Valentin am Nachmittag des Heiligabends bemerkte, dass Lololith verschwunden war, sah es allerdings noch gar nicht danach aus.
Valentin hatte mit Jörg auf dem Pferdeschlitten zum Staigerhof fahren dürfen. Dort hatte ihnen Tante Anna so viele Päckchen für die Familie mitgegeben, dass ihm gar keine Hand mehr für den Puppenjungen frei blieb. So hatte er ihn neben sich auf den Schlitten gelegt. Als sie zu Hause ankamen, war Lololith nicht mehr da. Zwar war der große Bruder sogleich mit Valentin umgekehrt, und sie hatten den Weg noch einmal abgesucht. Aber in der schnell hereinbrechenden Dunkelheit hatten sie den Puppenjungen nirgends mehr entdecken können.
Bei der Bescherung spiegelte sich darum das Licht der Kerzen glitzernd in den Tränen der unglücklichen Puppenvaters. Und als er dann gar aus einem von Tante Annas Päckchen eine neue Jacke für Lololith herausholte, flossen die eben versiegten Tränen noch einmal reichlich. Allzu deutlich sprach das Geschenk davon, dass die Puppe verloren war.
So eine verweinte Bescherung hatte es auf dem Halterhof seit Menschengedenken noch nicht gegeben. Früher als sonst am Heiligabend ging Valentin zu Bett. Fest drückte er das wollene Lämmlein, das er bekommen hatte, an sich, um sich von ihm trösten zu lassen. Aber das Lämmlein, das er bekommen hatte, verstand sich noch nicht auf jene Kunst, die Lololith so wunderbar beherrschte. Der Junge musste sich noch oft von einer Seite auf die andere rollen, eher er endlich Schlaf fand.
Draußen stieg der volle Mond empor und tauchte die Schneelandschaft in sein silbernes Zauberlicht: den Hof und die kahlen Äcker, den Wald und den Weg, auf dem noch die Schlittenspur glänzte. Er leuchtete auch hell auf den Busch, unter dem der Puppenjunge immer noch genau so lang, wie er vor Stunden vom Schlitten gefallen war.
So nahte die heilige Stunde. Als aber fern in der Stadt die Glocken Mitternacht läuteten, begann Lololith auf einmal sich zu regen. Er setzte sich auf und rieb den Schlaf aus den Augen. Dann schaute er sich verwundert um. „Wo bin ich denn?“ frage er leise. „Und wo ist Valentin? Wieso bin ich denn nicht in meinem Bettlein?“ „Du bist bei mir“, flüsterte der Busch, „und ich schütze dich vor Wind und Wetter so gut ich kann.“ „Aber ich will nicht hier bleiben“, erwiderte Lololith und erhob sich. „ Ich will doch heim zu Valentin. Ach wenn ich nur wüsste, wohin ich gehen muss.“ „Wir wollen dich führen“, piepsten da zwei Mäuslein, die unter der Wurzel des Busches ihre Nasen hervorstreckten. „Wir kennen den Weg. Doch er ist weit, und du wirst flink laufen müssen, denn die Stunde ist bald um.“ „Die Stunde?“, fragte Lololith erstaunt. „Von welcher Stunde redet ihr?“ „Von der heiligen Stunde“, erwiderten die Mäuslein, „ von der Stunde, in der Pflanzen und Tiere mit Menschenstimme sprechen können und du selbst lebendig bist wie unsereins.“
Da hatte Lololith es eilig und folgte den Mäuslein, so schnell er konnte. Was machte der Puppenjunge für große Schritte! Dennoch verrann die Zeit, und immer noch war der Weg zum Halterhof weit. Als sie zum Wald kamen, musste Lololith eine Pause machen. „Ich kann nicht mehr laufen“, klagte er atemlos. „Meine Beine tragen mich einfach nicht mehr.“ „Ich will dich tragen“, hörte er jemanden sagen. In der Dunkelheit sah er zwei gelbe Augen blitzen, und dann stand der Fuchs vor ihm. „Setz dich auf meinen Rücken, Puppenkind“, forderte er Lololith freundlich auf, „ich will dein Pferdchen sein.“ Der Puppenjunge ließ sich nicht zweimal bitten. Flink sprang er auf den Rücken des Fuchses und hielt sich an dessen Nackenfell fest. Über die Schulter rief er den Mäuslein schnell noch einen Dank zu; dann rannte der Fuchs bereits mit ihm durch den Wald und über das weite weiße Feld, das dahinter lag, bis sie den Halterhof erreichten.
Erst als er beim Bauernhaus angelangt war, hielt der Fuchs an und ließ Lololith sacht zu Boden gleiten. „Frohe Weihnachten, Puppenkind“, wünschte ihm der Fuchs, ehe er wieder davonschlich, „und sag deinen Leuten ruhig, dass ich es war, der dir heute Nacht geholfen hat.“ Das wollte Lololith gern tun.
Nun wanderte er um das große Bauernhaus herum, einmal und noch einmal. Wie aber sollte er zu Valentin hinein kommen? Dessen Zimmer lag hoch oben unter dem Dach. So sehr er sich auch recken mochte, da kam er niemals hinauf. Da hörte Lololith das leise Rauschen großer Schwingen, und dann sah er die Eule, die sich vor ihm auf die Stufen den Hauses setzte. „Ich kann dich gern hinauftragen“, erbot sie sich, „wenn du mir zeigst, hinter welchem Fenster du zu hause bist.“ Vorsichtig nahm sie den Puppenjungen in ihre großen Klauen und erhob sich mit ihm in die Lüfte, und Lololith zeigte ihr das Fenster, hinter dem Valentin unruhig schlief. Vor dem Fenster war ein breites Brett, auf dem im Sommer die Geranientöpfe standen. Darauf setzte die Eule den Puppenjungen nieder. „Danke“, wollte er sagen. Doch da war die heilige Stunde eben zu Ende, und der Puppenjunge fiel, bums, mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe. Auch das „fröhliche Weihnachten“ der Eule klang nur noch wie ein ganz gewöhnliches „ Uhuu uhuu“.
Drinnen im Bett aber richtete sich ein kleiner Junge auf. Ob er vom „Bums“ des Puppenkopfes oder vom „Fröhliche- Weihnachten-Uhuu“ der Eule erwacht war, weiß ich nicht. „Lololith“, flüsterte Valentin und zog den Vorhang beiseite.
Er war gar nicht verwundert, den Puppenjungen dort zu finden. Jemand musste ihm wohl im Traum bereits verraten haben, dass Lololith dort auf ihn wartete. Schnell öffnete er das Fenster und holte ihn zu sich herein. Im Bettlein wurde dem Puppenjungen bald wieder warm. Eigentlich wollte Valentin ja von Lololith noch erfahren, wo er denn gewesen und wie er auf das Fensterbrett gekommen sei. Doch noch ehe er den Puppenjungen dies alles fragen konnte, war das glückliche Kind schon wieder eingeschlafen.
Beim Wiedersehen mit Lololith am nächsten Morgen gab es im Haus ein freudiges Hallo und manches Rätselraten, wie die Puppe wohl wieder heimgefunden hatte. Auf dem Fensterbrett lag eine weiche Eulenfeder, und bis ans Haus heran führten durch den Schnee frische Fuchsspuren. Da haben sich die Leute schon denken können, wer Lololith in dieser Nacht geholfen hatte und wem sie Dank schuldeten.