Ein neues Kleid für die Gottesmutter
Mancherlei gibt es an Weihnachtsvorbereitung, das einem überflüssig erscheinen kann. Für die Leute in dem kleinen Dorf am Finsterwald gehörte dazu, was der Malermeister Reichert zu tun pflegte. Der Malermeister Reichert packte nämlich in den Tage vor Weihnachten immer ein paar Farbtöpfchen und verschiedene Pinsel in einen Korb und wanderte damit in den Finsterwald. Eine Stunde musste er gewiss tüchtig ausschreiten, musste sich schließlich vom breiten Wanderweg durch eine enge Schneise hindurcharbeiten, um zu der Lichtung zu gelangen, die das Ziel seiner Wanderung war. Dort am Rand der Lichtung stand, von den Menschen fast vergessen, eine kleine Muttergottesstatue aus Gips. Sie stand, selbst kaum ellengroß, auf einer kleinen Säule und trug auf ihrem Arm, thronend wie ein König, das Christkind. Wind und Wetter war sie schutzlos preisgegeben, und wäre nicht der Malermeister Reichert gewesen, die kleine Gottesmutter hätte längst alle Farbe ihres Kleides eingebüßt. In den Tagen vor Weihnachten aber wanderte der Malermeister hinaus zu der Gipsmadonna und malte ihr mit vorsichtigen Strichen ihren Mantel wieder schön blau an, und erneuerte auch das Weiß des Kleidchens, welches das Christkind trug, tauchte endlich den feinsten Pinsel in den Topf mit goldener Farbe und frischte damit die Heiligenscheine von Mutter und Kind auf, wenn noch ein Rest übrig blieb, malte er der Gottesmutter einige goldene Sterne auf ihr Kleid. War ihm das Werk zu seiner Zufriedenheit gelungen, packte er Farben und Pinsel wieder zusammen, verneigte sich vor der kleinen Marienfigur und ihrem Kind, wünschte eine gesegnete Weihnachtsnacht und kehrte ins Dorf zurück.
Gern hätten die Menschen gewusst, warum Malermeister Reichert so handelte. Was für einen Sinn konnte es haben, eine kleine Gipsfigur neu anzumalen, die kein Mensch je zu sehen bekam außer den Kindern, die mit liefen, wenn der Malermeister zur Lichtung hinaus´wanderte? Aber immer erwiderte er auf neugieriges Fragen: „Ich darf`s nicht sagen.“
Erst kurz vor seinem Tod hat er sein Geheimnis preisgegeben.
Früher, als der Malermeister Reichert selbst fast noch ein Kind war, lebte in dem kleine Dorf am Finsterwald eine merkwürdige Alte, die alle nur die alte Hedda riefen und von der manche munkelten, dass sie sich auf Hexenkünste verstünde.Sie liebte die Tiere des Waldes mehr als die Leute im Dorf. Wenn sie in den Finsterwald ging, kamen ihr die Eichhörnchen entgegengesprungen, die Hasen hoppelten ein Stück Wegs mit ihr, die Rehe schauten ohne Furcht auf, wenn sie in ihre Nähe kam, und ästen dann ruhig weiter. Die alte Hedda liebte die Tiere, und die Tiere hatten Vertrauen zu ihr.
Damals schon war die Muttergottes auf der Lichtung ganz grau und unansehnlich geworden. Alle Farben waren verblichen in Regen und Kälte; ein trauriger Anblick, nur dass kaum ein Mensch er wahrnahm, da auch damals der breite Wanderweg die Lichtung nicht mehr berührte.
Der alten Hedda aber missfiel es sehr, dass die kleine Muttergottes so ärmlich da stehen sollte jahrein, jahraus. Deshalb hatte sie mit dem Maler verabredet, er solle bei Gelegenheit hinausgehen und die Farben der Statue erneuern. Der Mann hatte es ihr auch versprochen, war aber nie dazugekommen, dieses Versprechen einzulösen. Dann wurde es Advent, und die alte Hedda erinnerte ihn an sein Wort. Nun hatte der Maler vor dem Fest aber noch viel Arbeit; so vertröstete er die Alte von einem Tag auf den anderen. Endlich am Tag vor Weihnachten brummte er: „Hedda, ich schaff `s nicht. Aber wenn du unbedingt willst, das die Maria auf der Lichtung für Weihnachten ihr neues Kleid hat, dann kann ja der Bub mit die kommen und sie anstreichen.“
„Der Bub“, das war ein armes Menschenkind. Früh schon hatte er durch ein Unglück die Eltern verloren und konnte seitdem auch nicht mehr sprechen. Als eine Waise war er aufgewachsen und jetzt, da er vierzehn Jahre alt geworden war, zum Maler in die Lehre gekommen.
Er ging gern mit der alten Hedda. Fröhlich stapfte er an ihrer Seite durch den winterlichen Wald und hatte sichtlich Vergnügen daran, dass hin und wieder ein Tierlein zu der alten Frau gelaufen kam, um die zu grüßen, oder auch, um eine Nuss oder ein Stückchen Brot zu erbetteln.
Auf der Lichtung angekommen, machte sich der Bub gleich ans Werk, malte der Maria einen schönen blauen Mantel, dem Christkind ein makellos weißes Kleid und tauchte dann voll Wohlbehagen den dünnen Pinsel in das Töpfchen mit Goldlack, um die Heiligenscheine von Mutter und Kind zu erneuern.
Als er endlich fertig war und voll seliger Freude sein gelungenes Werk betrachtete, fragte ihn die alte Hedda plötzlich: „ Wo wirst du eigentlich Weihnachten feiern in diesem Jahr? Beim Maler?“ Der Bub zuckte nur mit den Schultern. „Magst du vielleicht mit mir feiern?“, forschte die Alte weiter. Wieder zuckte der Bub zur Antwort mit den Schultern. „Magst du denn mit mir und mit dieser schönen Gottesmutter hier feiern?“, fragte die alte Hedda ein drittes Mal. Da strahlten die Augen des Jungen auf, und er nickte glücklich. „So komm, wir wollen den Meister um Erlaubnis bitten.“
Der Maler willigte gern ein, das der Bub über Weihnachten zur alten Hedda ging, und so waren denn alle drei zufrieden.
Am Nachmittag richtete die Alte zahllose Päckchen mit allerlei Leckereien für die Tiere des Waldes. „Nimm, so viele du tragen kannst“, hieß sie den Jungen, „und komm mit. Wir müssen noch einmal hinaus zur Lichtung.“ Willig folgte er ihr. Draußen auf der Lichtung half er der alten Hedda, die vielen Päckchen in einem großen Kreis zu Füßen der Madonnenstatue auszulegen. „Für die Tiere, wenn sie Weihnachten feiern“, erklärte die Alte und lächelte dabei geheimnisvoll.
Schließlich zogen sie an diesem Tag noch ein drittes Mal hinaus auf die Lichtung, und zwar, als die heilige Nacht endlich herein gesunken war. Da aber geschahen so seltsam wunderbare Dinge, dass der Bub später selbst nicht mehr sicher war, ob er es wirklich erlebt oder ob die alte Hedda es ihn vielleicht nur hatte träumen lassen. Zweifelnd hatte die Alte den Bub betrachtet, endlich aber festgestellt: „ Bist ja stumm wie ein Fisch und wirst das Geheimnis nicht weitersagen.“
Dann hatten sie sich auf den Weg gemacht in den Finsterwald hinein. Allein hätte sich der Bub gewiss gefürchtet, nicht nur, weil es so dunkel war, sondern weil es um sie her auch immer wieder raschelte und sich regte. Neben der Alten aber schritt er mutig aus.
Auf der Lichtung erwartete ihn eine Überraschung: Die Rehe und der Hirsch, der Fuchs und das Wildschwein, die Eichhörnchen und Igel, alle Tiere des Waldes, die ihr euch nur denken könnt, waren dort zusammengekommen. Aus dem Dorf waren sogar ein paar Katzen herbei geschlichen und saßen nun erwartungsvoll im Kreis.
Leise traten die alte Hedda und der Bub zu den Tieren, und es wurde still, ganz still. Aller Augen ruhten jetzt auf der ellengroßen Statue, die im Licht des Mondes deutlich zu erkennen war.
Auf einmal schien es dem Bub, als leuchtete der Heiligenschein der Gottesmutter viel heller als zuvor, und als er genauer hinschaute, wurde er gewahr, dass die kleine Maria gar nicht starr und steif dastand wie noch am Nachmittag, sondern das sie ganz lebendig war. Mit wachen Augen blickte sie sich im Kreis der Tiere, und auch das Kind auf ihrem Arm war lebendig und winkte denen, die sich da versammelt hatten, freudig zu. Dann sah der Bub, dass die Mutter Gottes von ihrer Säule herunter stieg und das Christkind zu den Tieren hintrug: zu den Rehen und dem Hirsch, zum Fuchs und zum Wildschwein, zu den Eichhörnchen, den Hasen, den Igel, zu allen, die dort waren. Und einem jeden legte das Kind sacht die kleine Hand auf den Kopf und segnete so die Tiere des Waldes und auch die Katzen, die aus dem Ort herbei geschlichen waren.
Endlich trat die Gottesmutter auch zu den beiden Menschen, die in der heiligen Stunde zu Lichtung gekommen waren, zeigte auch ihnen ihr himmlisches Kind, und dann winkte die dem Bub, vor ihr niederzuknien. Staunend folgte er ihrer Weisung. Als er aber auf dem Boden kniete, den Kopf tief geneigt, fühlte er auf einmal die winzige Hand des Christkindes auf seinem Scheitel, und war diese Berührung auch nur so sanft und zart wie ein Hauch, so strömte davon doch solche Wärme und ein solches Vertrauen in sein Herz, dass der Bub tief aufseufzen musste vor Glück. „Oh“, hörte die alte Hedda ihn seufzen, und: „Vielen Dank, du liebes Christkind“, hörte sie ihn flüstern.
Als der Bub sich schließlich wieder erhob, stand die kleine Gottesmutter mit ihrem thronenden Kind längst still auf ihrer Säule. Die Tiere des Waldes hatten sich leise zurückgezogen. Hätte die alte Hedda ihm nicht die Hand auf die Schulter gelegt, vielleicht wäre der Junge in seliger Selbstvergessenheit einfach dort knien geblieben. Wie träumend folgte er jetzt der Alten. Sie waren schon wieder fast am Waldrand angelangt, als die alte Hedda plötzlich stehen blieb und fragte: „Hast du >Vielen Dank, du liebes Christkind < gesagt?“ „Ja“ antwortete der Junge leise.
Eine Weile war es still zwischen den beiden. Endlich murmelte Hedda: „Aber, gelt, das Geheimnis dieser Nacht verrätst du trotzdem nicht, sonst laufen die törichten Menschen noch hinaus und stören das Wunder.“ „Ich verrat es nicht, sei unbesorgt“, versprach der Bub.
Daran hat er sich auch gehalten. Zwar haben die Menschen schnell bemerkt, dass der Stumme auf einmal sprechen konnte. Aber wie es dazu gekommen ist, haben sie nicht erfahren.
Das ist die Geschichte, die der Meister Reichert kurz vor seinem Tod seinem Gesellen anvertraute. Das jener Bub, dem das Christkind in der Heiligen Nacht die Sprache wiedergegeben hatte, niemand anderes gewesen war als der Malermeister selbst, konnte der Geselle sich denken, und da verstand er auch, warum der Malermeister fortan Jahr für Jahr getreulich hinaus gewandert war, die Kleider und Heiligenscheine der kleinen Gipsmadonna und ihres Kindes aufzufrischen. Auf diese Weise wollte er seine Dankbarkeit zeigen für das, was er selbst von ihm einmal empfangen hatte, und wollte dafür sorgen, dass sie würdig erscheinen konnten, wenn sie mit den Tieren des Waldes zusammen auf ihre ganz besondere Art die heilige Stunde der Weihnachtsnacht feierten.